Von Platon gibt es ein Höhlengleichnis. In einer Höhle leben Menschen, die so festgebunden sind, dass sie nur auf die Wand vor sich schauen können. Die Höhle ist durch Feuer beleuchtet, somit können sie an der Wand Schatten sehen, die sich bewegen. Was sie nicht sehen können, ist die Mauer hinter ihnen und die Menschen, die hinter dieser Mauer Gegenstände herumtragen, genau in der Höhe, damit sie Schatten an die Wand vor den Gefangenen werfen.
Das, was sich auf der Wand abspielt, ist für die Gefangenen die gesamte Wirklichkeit und schlechthin wahr. Sie entwickeln eine Wissenschaft von den Schatten und versuchen in deren Auftreten und Bewegungen Gesetzmäßigkeiten festzustellen und daraus Prognosen abzuleiten. Lob und Ehre spenden sie dem, der die besten Voraussagen macht.
Platon fragt nun, was passieren würde, wenn die Gefangen losgebunden und ans Tageslicht gebracht werden würden. Wenn sie den Trick der Schatten erkennen würden und sie die Realität sehen könnten. Wenn sie die Sonne auf ihrer Haut spüren, den Duft der Blumen riechen und das Rauschen des Meeres hören könnten. Sie würden erkennen, dass sie sich Zeit ihres Lebens mit einer Illusion befasst haben, die mit dem wahren Leben nichts zu tun hat.
Nach diesen Erlebnissen und Einsichten hätten sie keinerlei Bedürfnis mehr, in die Höhle zurückzukehren, sich mit der dortigen Schattenwissenschaft zu befassen und dafür von den Gefangenen belobigt zu werden.
Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Wir alle leben in dieser Höhle und schauen den Schattenspielen zu. Wir interpretieren und analysieren sie, fürchten uns davor oder lieben sie. Aber so gut wie nie erkennen wir, dass es sich um eine Darstellung an der Wand handelt und so gar nichts mit der Realität zu tun hat.
Warum ist das so?
Stell dir vor, du gehst ins Kino und schaust dir einen Film an. Dieser Film beeindruckt dich, er bewegt dich, du lebst mit und bist komplett gefangen darin.
Sosehr dich der Film auch berührt, du bist dir in jeder einzelnen Sekunde bewusst, dass es nur ein Film ist. Du gehst nicht davon aus, dass die Schauspieler tatsächlich gerade auf der Leinwand sind. Auch ist dir klar, dass keiner der Personen tatsächlich verletzt werden oder gar sterben. Du weißt auch, dass der Film, den du gerade siehst, ein Endprodukt ist. Dass davor monatelange Dreharbeiten erforderlich waren, dass der Film geschnitten, mit Musik unterlegt und nachbearbeitet wurde, damit du dieses wunderbare Endergebnis im Kino betrachten kannst.
Das alles ist dir bewusst, du weißt es. Sosehr du auch in diesem Film mit lebst, du weißt, dass es nur ein Film ist.
Wenn es um unsere Gedanken, Erinnerungen und Vorstellungen geht, dann wissen wir das nicht. Obwohl unser System genauso arbeitet, wie die Regisseure und Produzenten bei diesem Film, erkennen wir diese Gemeinsamkeiten nicht.
Michael Neill hat vor einigen Jahren in einem Ted-Talk die Frage gestellt: „Why aren´t we awesomer?“
Eine berechtigte Frage. Warum sind wir Menschen nicht genialer, obwohl wir Menschen Fähigkeiten besitzen, die ihresgleichen sucht?
Die Antwort ist genauso einfach, wie irritierend: Weil wir nicht wissen, wie unser Gehirn und unser Verstand funktionieren.
Unser Gehirn ist keine Kamera
Immer noch meinen wir, unser Gehirn funktioniert wie eine Kamera. Das, was sich im Außen abspielt, wird 1:1 aufgenommen und uns vorgespielt. Das, was wir sehen und denken, spiegelt exakt das wider, was sich in der Realität abspielt.
Aber so funktionieren wir nicht.
Das, was wir bewusst wahrnehmen, ist nur ein Bruchteil von dem, was rund um uns geschieht.
Wäre unser Gehirn tatsächlich eine Kamera, dann würden wir vermutlich an Reizüberflutung sterben.
Laut Studien verarbeitet unser Gehirn zwischen 20 und 40 Millionen (!!!) Bits an Informationen pro Sekunde. (Bit = Maßeinheit für den Informationsgehalt).
All das wird von uns über unsere Sinne verarbeitet, jenseits unserer Wahrnehmung.
Eine kleine Schätzfrage:
Wenn die Sinnes-Verarbeitung außerhalb unserer Wahrnehmung 20–40 Mio. Bits pro Sekunde beträgt, was glaubst du, wie viel davon landet in unserem Bewusstsein?
1 Mio. Bits/Sekunde? 100.000? 10.000? 1000?
Es sind 20 Bits/Sekunde. Zwanzig!!!!
Was passiert mit den restlichen 19.999.980?
Alle Informationen laufen durch eine Art Filter in uns. Der Großteil der Informationen wird als nicht relevant ausrangiert.
Ein Teil wird jenseits unserer Wahrnehmung verarbeitet. Wird interpretiert, zusammengeschnitten und umformuliert. Erst diese umgedeutete und verarbeitete Version erscheint in unserem Bewusstsein. Das ist dann das, was wir als unsere Wirklichkeit bezeichnen.
Dieser kleine Ausschnitt wird auf unsere (Lein-)Wand projiziert. Alles, was wir sehen, denken, woran wir uns erinnern, was wir glauben und wir uns vorstellen, ist nur ein Schatten der Realität. Ein Bruchteil von dem, was jemals passiert ist und aktuell passiert.
Spannend ist, dass wir beinahe unsere gesamte Aufmerksamkeit auf diesen winzig kleinen Teil lenken.
Nur stell dir mal selbst die Frage: Wenn unser Gehirn alles, was rund um uns passiert zusammenschneidet, interpretiert, Lücken füllt und den Großteil der Information überhaupt weglässt, wie wahr kann das noch sein, was wir bewusst wahrnehmen?
Es ist ein Trick, den uns unser Gehirn vorspielt. Ein großartiger, wunderbarer und meisterlicher Trick. Den wir aber bereits so gewohnt sind, dass wir ihn schon wieder vergessen haben.
Es gibt nichts zu tun, es gibt etwas zu sehen
Dass unser Gehirn das tut, was es tut, das können wir nicht verändern. Wie zuvor erwähnt, würden wir vermutlich an Reizüberflutung sterben, müssten wir die gesamte Wucht an Informationen bewusst verarbeiten. Dafür sind wir nicht gebaut. Unser System funktioniert perfekt, indem es uns nur das Endprodukt vorspielt. Eine Zusammenfassung des großen Ganzen. Quasi einen Trailer des gesamten Films.
Was wir jedoch machen können, ist erkennen, was sich tatsächlich abspielt, auch wenn wir es nicht verstehen oder wahrnehmen können. Der Film im Kino begeistert dich auch, obwohl du nicht bei den Dreharbeiten dabei warst.
Vielleicht gefällt er dir gerade deshalb so gut. Ich war einmal bei Dreharbeiten zu einem Werbe-Clip dabei. Das fertige Produkt hat 30 Sekunden gedauert, der Drehtag 8 Stunden. Unglaublich langweilig!
Die Kunst ist nicht den fertigen Film zu verändern. Die Kunst ist zu erkennen, dass es sich überhaupt um einen Film handelt.
Alle Vorstellungen von dem, wie wir sein sollen (oder nicht) und wie das Leben sein soll (oder nicht) betrifft immer nur den Schatten auf unserer Wand. Wir analysieren, kritisieren, bewerten und kategorisieren – den Schatten. Wir fürchten uns davor oder lieben die Figuren, die wir sehen. Wir wollen sie größer, kleiner, erfolgreicher, zufriedener, beliebter, anerkannter, reicher, und so vieles mehr, haben. Wir wollen, dass sie für immer bei uns bleiben oder sofort aus unserem Leben verschwinden.
Das Leben verändert sich komplett, sobald wir die Illusion und den Trick dahinter erkannt haben. Alles, was uns bisher bedrohlich vorkam, wovor wir uns fürchteten und worüber wir uns Sorgen machten, wird als Schattenspiel in unserem Bewusstsein erkannt.
Wenn das gesehen wird, dann passiert das, was so oft in meinem Coaching passiert. Lachen, Erleichterung, ein „Ah, auch das ist nur ein Gedanke.“ oder ein „Ah, ich muss gar nichts tun.“
Nein, wir müssen nichts tun. Du musst nichts tun. Alles ist perfekt, genauso wie es ist und wie es sein soll. Du musst nicht anders werden. Dein Leben muss nicht anders werden.
Das Einzige, was du tun musst, ist von der großen Illusion aufzuwachen und zu erkennen, dass du nicht der Schatten bist, sondern das Licht, das den Schatten erzeugt. Und dass du jederzeit, und zwar wirklich jederzeit, dich umdrehen kannst und alle Schatten, die dein Leben gerade verdunkeln, den Rücken kehren und in eine andere Richtung gehen kannst.
Hast du das einmal getan und die Schönheit der Welt tatsächlich gesehen, wirst du, so wie Platon Gefangene, nie wieder das Bedürfnis haben, in die dunkle Höhle zurückzukehren und dich mit Dingen beschäftigen, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.