Heinrich Böll schrieb die Anekdote vom „Fischer und dem Manager“:
Ein Fischer liegt dösend in der Sonne in seinem Fischerboot, als er von einem aufdringlichen Manager geweckt wird. Der wundert sich, dass der Fischer nicht draußen ist und Fische fängt. Er habe, erklärt der Fischer, für heute schon genug gefangen. Der Manager wundert sich und beginnt zu überlegen, was alles passieren könnte, wenn der Fischer nur noch häufiger herausfahren würde …
… er könnte doch schon viel mehr Fische geangelt haben, mit denen er sich ein Motorboot kaufen könnte, dann ein zweites Boot, dann einen Kutter, dann zwei Kutter und so weiter und so weiter. Bis, ja bis der Fischer ihn fragt, was er denn damit anfange würde. Der Manager antwortet: Dann könne der Fischer beruhigt in der Sonne sitzen und dösen!
‚Aber das tu’ ich ja schon jetzt!‘ ist die Antwort des Fischers, der sein Glück bereits gefunden hat. Das liegt für ihn nicht im Geld, sondern darin, die Sonne und das Leben zu genießen.
Es gibt jene Menschen, die, wie der Manager, das Spiel nach „mehr“ lieben. Sie sehen das Leben als Wettkampf, bei dem es viel zu gewinnen gibt, das aber nur zu erreichen ist, wenn viel getan wird. Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen, ist ihr Motto.
Dann gibt es jene Menschen, die bereits, wie der Fischer, die Schönheit des Lebens sehen und genießen können. Sie machen ihre Arbeit, können aber hervorragend entspannen, wenn der Moment dazu da ist.
Und dann gibt es eine dritte Gruppe, die sich eigentlich nach dem Leben des Fischers sehnen, aber den Rat des Managers annehmen.
Gefangen im „Mehr-Rad“
Zu dieser Gruppe habe ich lange Zeit gehört. Ich bin durchs Leben gerast – mehr Ausbildungen, mehr Wissen, mehr Arbeiten, mehr Geld – um dann, irgendwann, entspannt sein und das tun zu können, was ich wirklich tun möchte.
Das Spannende in meiner Geschichte ist, dass es den Zeitpunkt – jetzt tu’ ich, was ich möchte – tatsächlich gab. Nämlich, indem ich mich selbstständig machte. Und ich dachte tatsächlich, dass ich jetzt, so wie der Fischer, mein Leben und meine Arbeit genießen werde können.
Das war ein Irrtum. Denn ich stieg in absehbarer Zeit wieder in das „Mehr-Rad“ ein. Mehr Kund:innen, mehr Umsatz, mehr Aufmerksamkeit, mehr Netzwerk, mehr Reichweite etc.“
Wieder war ich in meiner Stress-Dauer-Schleife gefangen, aus der ich kaum aussteigen konnte. Einmal darin gefangen, drehte sich die Spirale weiter und sie zeigte nur nach unten. Irgendwann flog ich erschöpft heraus, vollkommen gerädert, am Boden zerstört, kaum Kräfte, um wieder aufzustehen. Und oft dachte ich mir, ich bleibe einfach liegen, ich stehe gar nicht mehr auf. Ich bin wohl für dieses Ding nicht geschaffen, zu undiszipliniert, zu wenig Können und Wissen, zu sensibel, zu …, zu …, zu … . Auf alle Fälle war ich nicht gut genug und brauchte „mehr“.
Sind wir in dieser Endlos-Schleife gefangen, dann ist es tatsächlich schwierig, aus ihr wieder herauszusteigen. Es gibt unterschiedliche Strategien, die wir uns angeeignet haben.
Entweder ziehen wir uns zurück, lassen unseren Traum, Traum sein, legen ihn als Hirngespinst ab und tun etwas, was uns zwar nicht vollkommen erfüllt, uns aber zumindest von unserem Leiden befreit.
Oder wir treten noch schneller, weil wir denken, dass uns das letztendlich ans Ziel führen wird. Mit etwas mehr Disziplin, etwas mehr Anstrengung, einem besseren Plan oder eine zielführendere Strategie hoffen wir, endlich auf der anderen Seite frisch, munter und entspannt herauszukommen. Was allerdings nie passiert, weil wir irgendwann erschöpft und ausgebrannt darniederliegen.
Vom Fischer zum Manager …
Ich denke, wenn wir auf die Welt kommen, sind wir alle Fischer. Wir lieben das Leben, sind dankbar dafür und genießen, was gerade ist. Wir verlieren uns im Spiel, ziehen keine Grenzen zwischen Geschlechter, Rassen und Hautfarben. Alle sind gleich, und wenn wir gut mit ihnen spielen und Spaß haben können, dann werden sie unsere besten Freunde. Das Leben ist meist leicht, fröhlich und fließend. Wir machen uns keine Sorgen über die Zukunft und denken nicht über Fehler aus der Vergangenheit nach. Wir sind einfach, und so wie wir sind, ist es ok.
Betreten wir im Schulalter die Welt der Erwachsenen, wird uns klargemacht, dass es nun Ernst wird im Leben. Wir müssen Leistung erbringen, taff sein, besser als die anderen. Fehler sind nicht mehr zum Lernen da, sondern werden bestraft.
Das macht am Anfang auch Spaß, denn wir bekommen viele Belohnungen. Aufmerksamkeit, Anerkennung, Liebe, Geld, wenn wir gute Noten schreiben und unsere Leistung erbringen. Es fühlt sich auf alle Fälle besser an, als wenn wir bei schlechten Noten mit Nachsitzen oder Hausarrest bestraft werden.
Das lernt unser Gehirn. Es lernt, dass wenn wir uns mehr anstrengen und wir mehr erreichen, wir positives Feedback bekommen. Was als Spaß und Erziehungsmaßnahme begonnen hat, kann zu einer Sucht werden. Einer Sucht, die uns gar nicht bewusst ist, die nicht auffällt und vor allem in unserer Gesellschaft anerkannt ist. „Busy is sexy“, bist du nicht busy, bist du nichts wert.
So werden viele von uns zu diesem Manager, der überall Möglichkeiten sieht, wie noch mehr zu schaffen und noch mehr zu erreichen ist. Stillstand ist der frühzeitige Tod und muss um jeden Preis vermieden werden.
Und doch sehnen sich so viele nach dem Fischer in uns. Nach einem Zustand des Ankommens, Loslassens und des „einfach nur Sein“. Des Spielens, der Freude, der inneren Zufriedenheit.
Nur passt das so gar nicht mit unserem angelernten Leistungs-Denken zusammen.
Es gibt nur ein Entweder-oder. Entweder alles oder nichts.
Oder gibt es nicht doch noch einen anderen Weg?
… und wieder zurück
Es gibt ein sowohl als auch. Denn wir alle haben bereits alles in uns. Den Fischer und den Manager.
Wir können gute Leistung erbringen UND das Leben in vollen Zügen genießen. Wir können das Spiel nach „mehr“ spielen und wissen, dass wir „mehr“ gar nicht benötigen, weil wir schon alles haben und sind, was wir brauchen. Wir können für eine Sache brennen, ohne dabei auszubrennen. Wir haben die analytischen Fähigkeiten in uns und die Fähigkeit im kreativen Flow Zeit und Raum zu vergessen. Wir können verbissen an einer Sache arbeiten und spielerisch von Idee zu Idee hüpfen.
Wenn uns bewusst wird, dass wir die gesamte Palette in uns tragen und diese auch bewusst nutzen können, dann verlieren wir uns weder im Hamsterrad noch in einem Status der Aufgabe und des Verzweifelns.
Stattdessen holen wir den Manager in uns heraus, wenn wir strategisch, fokussiert und analytisch arbeiten wollen und lassen dem Fischer seinen Raum, wenn es darum geht, das Leben zu genießen, es als Spiel zu sehen, kreativ in der Welt zu agieren und sich einfach nur des Seins zu erfreuen.
Gelingt uns das, dann gibt es keine inneren Kämpfe mehr. Kein Stress, kein Druck. Wir sind im Einklang mit allen Seiten in uns, mit allen Wünschen und Bedürfnissen. Es herrscht innerer Frieden, weil alle Teile in uns Gehör und Raum finden.
Der Manager hilft dann dem Fischer notwendige Reparaturen am Boot durchzuführen, damit es noch lange seinen Dienst machen kann und der Fischer lädt den Manager zum Dösen auf sein Fischerboot ein, zeigt ihm einen traumhaften Sonnenuntergang und lehrt ihm, dass weniger oft mehr ist.