Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist es, in meinem bequemen Lehnstuhl zu sitzen, aus dem Fenster zu blicken und die Wolken zu beobachten. Wolken in allen möglichen Größen und Farben tauchen auf, verändern sich und verschwinden wieder. Wenn ich lange genug hinsehe, dann erkenne ich sogar Formen. Da taucht dann eine liegende Frau auf oder ein springender Hase oder ein wuscheliges, zotteliges Tier, das einem riesigen Hund gleicht. Ich kann sie tatsächlich sehen. Für mich sind sie da.
Aber natürlich sind all diese Figuren nicht wirklich da. Es ist die wunderbare Fähigkeit meines Verstandes, aus diesen Wolkenformationen ein Gebilde herzustellen, das Tieren und Menschen gleicht.
Bei all diesem Kommen und Gehen der Wolken, gibt es etwas, das im Hintergrund immer da ist und stabil bleibt. Der Himmel. Er mag von Wolken verhangen sein, er mag nicht sichtbar sein. Und trotzdem ist er immer da.
Der Himmel (und auch die Sonne) bleiben vom Wetter unbeeinträchtigt. Der Sonne ist es egal, ob kleine oder große Wolken vorbeiziehen. Dem Himmel macht es nichts aus, wenn sich Gewittertürme bilden und in einem heftigen Gewitter entladen.
Himmel und Sonne bleiben unberührt.
Dieses Bild von Wolken, Himmel und Sonne verwende ich gerne in meinen Coachings. Denn transportieren wir diesen Vergleich auf uns Menschen, dann ist unsere wahre Natur der Himmel und die Sonne. Und nicht, wie wir fälschlicherweise oft glauben, die Wolken, die am Himmel vorbeiziehen.
Es ist eine Interpretation und nicht die Wahrheit
Nur lernen wir das so nicht. Wir lernen, dass wir auf unsere Gedanken und Gefühle hören müssen und darauf, was sie uns scheinbar sagen wollen. Wir lernen, dass die Gedanken, die in uns auftauchen, etwas über uns oder eine Situation aussagen. Dass wir das sind, was wir denken.
Niemand sagt uns, dass das nicht der Fall ist. Niemand sagt uns, dass es nur Energie ist, die IN uns auftaucht, dass es das ist, was ein Gehirn und ein Verstand tun. Nicht mehr und nicht weniger. Bei dir, bei mir, bei jedem Menschen auf diesem Planeten. Wir jedoch nehmen diese Gedankenbilder unglaublich ernst, fürchten uns davor, wollen sie verändern und loswerden.
Schaue ich in den Himmel und betrachte diese Wolkenbilder, dann frage ich mich nicht, warum ich diese Formationen sehe und was sie zu bedeuten haben. Ich finde es amüsant und unterhaltsam, dass mein Verstand etwas produziert und ich etwas sehe, was gar nicht da ist.
Und betrachten wir Gedanken genauer, dann sehen wir auch etwas, was so gar nicht da ist. Am Himmel sehen wir Wolken-Bilder und in unserem Geist sehen wir Gedanken-Bilder. Da gibt es keinen Unterschied.
Kein Bild und kein Gedanke, der in uns auftaucht, ist schlecht oder gut, falsch oder richtig. Es ist nur einfach das, was ein Verstand tut.
Was uns ängstigt, ärgert, sorgt, wütend macht, aber auch freut, ist die Interpretation unserer Gedanken. Wir interpretieren das Gedanken-Bild als Furcht einflößend oder als Freude spendend. Und vergessen dabei, dass es sich um eine Interpretation und nicht um die Wahrheit handelt. Und vergessen auch, dass jede Interpretation subjektiv ist.
Würden wir nämlich gemeinsam die Wolken beobachten, würdest du ganz andere Bilder sehen als ich. Dein Verstand würde andere Bilder erzeugen. Wo ich einen süßen, kleinen Hund sehe, siehst du vielleicht ein bedrohliches Monster. Wo du eine schlafende Frau siehst, sehe ich zwei kämpfende Ungetüme.
Genauso passiert es, wenn wir in die Welt blicken. Das Gehirn verarbeitet Energie zu Gedanken und unser Verstand interpretiert diese, versucht ihnen einen Sinn zu geben und webt eine Geschichte rundherum.
Du kennst sicher genug Situationen, in denen du eine andere Wahrnehmung hattest als eine andere Person. Du gehst zum Beispiel mit einer Freundin ins Kino. Bereits nach kurzer Zeit langweilst du dich. Der Film spricht dich nicht an und du möchtest am liebsten sofort den Saal verlassen. Deine Freundin hingegen ist ganz begeistert. Sie liebt diesen Film und schwärmt noch Wochen danach davon.
Wie kann das sein? Welcher Eindruck ist der richtige?
Wäre unsere Wahrnehmung die Wahrheit, dann hätten wir alle dieselbe Erinnerung, dasselbe Empfinden und dieselbe Geschichte dazu.
Wir sehen nur einen kleinen Ausschnitt
Das ist aber nicht der Fall. Unser Verstand färbt, verändert, interpretiert, bewertet, verfälscht jede Situation und jede Person. Das, was wir in unser Bewusstsein geschickt bekommen, ist nicht das, was sich „da draußen“ tatsächlich abspielt, sondern das, was unser Verstand daraus macht. Gefiltert und eingefärbt durch unsere bisherigen Erfahrungen, Erinnerungen, Hoffnungen, Vermutungen, Vorstellungen, Wünsche und Träume.
Eine der größten Missverständnisse beruht darauf, dass das, was wir bewusst wahrnehmen, tatsächlich gerade passiert. Wäre das aber der Fall, wären wir komplett überfordert. Wir könnten mit dem, was „da draußen“ passiert, mit diesen Millionen Sinneseindrücke, die auf uns einprasseln, nicht umgehen.
Damit wir gelassen durchs Leben gehen können, schneidet unser Gehirn alle unnötigen Informationen weg und präsentiert uns nur das, was jetzt gerade für uns wichtig erscheint. Aber diese Entscheidung treffen nicht wir, die trifft unser Gehirn!
Wir sehen nur eine abgesteckte Version der Realität. Diversen Schätzungen zufolge, verarbeitet unser Gehirn 40 Mio. Bits pro Sekunde. Dazu zählen alle Sinneseindrücke (riechen, fühlen, schmecken, sehen und hören) und auch alle Informationen, die für unseren Körperhaushalt notwendig sind (Temperatur – innen und außen, Anstrengungslevel, verzehrte Nahrung, usw.). Das alles passiert unbewusst, ohne dass wir irgendwas davon mitbekommen.
Bewusst nehmen wir nur einen Bruchteil wahr – nämlich 20 Bits pro Sekunde. Das heißt, dass unser Gehirn uns von den ca. 40 Millionen Informationseinheiten, die auf uns niederprasseln, nur 20 Einheiten in unser Bewusstsein durchlässt. Das sind gerade mal 0,00005 Prozent. Oder als bildhaftes Beispiel: Das größte Fußballstadion in Europa ist das Camp Nou in Barcelona. Es hat Raum für fast 100.000 Personen. Jetzt stell dir in diesem riesigen Stadion ein Reiskorn in der Mitte des Stadions vor. Das ist ungefähr das Verhältnis zwischen unbewusster und bewusster Wahrnehmung.
Das, was wir denken, was uns unser Verstand erzählt, ist nicht die Wahrheit, sondern immer nur ein winzig kleiner Ausschnitt, gefärbt, gefiltert, verändert. Damit es für uns Sinn ergibt, damit eine konsistente Geschichte erzählt werden kann.
Du hast die Wahl
So wie wir gelernt haben, dass unsere Gedanken die Wahrheit erzählen, so haben wir auch gelernt, dass wir diese Gedanken sind.
Aber Du bist kein Bild, keine Formation.
Du bist die große Weite, in dem diese Bilder und Geschichten auftauchen. Wolken kommen und gehen, der Himmel bleibt. Gedanken kommen und gehen, du bleibst. Du warst gestern da, mit anderen Gedanken als heute und wirst morgen da sein, und wieder wird dein Verstand aus der Energie, die durch dich fließt, Gedanken, Bilder und Geschichte formen. Weil der Verstand das tut. Weil es sein Job ist.
Deine Macht besteht nicht darin, nur jene Gedanken zu erzeugen, die dir ein gutes Gefühl bescheren. Deine Macht liegt darin, zu wählen, welchen Gedanken du deine Aufmerksamkeit schenkst, oder nicht.
Darin liegen die Weisheit und auch die Freiheit. Du bist nicht Spielball deines Verstandes, nicht Opfer deiner Gedanken oder deinen Gefühlen hilflos ausgeliefert. Du kannst das Steuer übernehmen. Du kannst die Richtung vorgeben und entscheiden, wie du dich fühlen möchtest.
Vielleicht glaubst du mir nicht. Das ist ok. Probiere es aus. Das nächste Mal, wenn du dich schlecht fühlst, beschäftige dich nicht weiter mit deinen Gedanken und Gefühlen. Versuche sie nicht zu verändern, umzudeuten oder „weg haben zu wollen“. Halte dieses unangenehme Gefühl kurz aus, lass sie, wie Wolken, an dir vorbeiziehen und lenke deine Aufmerksamkeit auf etwas, was dir guttut. Auf eine schöne Erinnerung zum Beispiel. Oder auf ein gutes Buch. Mache einen erfrischenden Spaziergang, trink eine Tasse Kaffee oder beobachte die Wolken am Himmel.
Du wirst sehen, dass deine unangenehmen Gefühle und Gedanken genauso schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen sind, wenn du ihnen die Aufmerksamkeit entziehst.
Das ist die Wahl, die du hast. Nutze sie. Weise.