Whole Brain living
Fragst du dich manchmal, warum du oft so uneins mit dir selbst bist?
Also ich definitiv! Heute will ich das, morgen ganz was anderes. An einem Tag bin ich im tiefsten Frieden mit mir, an einem anderen finde ich kein gutes Haar. Diese ständige Wandlung in unseren Gedanken und Gefühlen ist tatsächlich ein universelles menschliches Erlebnis. Es reflektiert die komplexe Natur unserer Persönlichkeit und die verschiedenen Aspekte, die in uns wirken.
Diese innere Dynamik wird besonders deutlich, wenn man die Arbeit von Jill Bolte Taylor betrachtet, einer Neurowissenschaftlerin, die nach einem Schlaganfall eine tiefgreifende Veränderung ihrer Persönlichkeit und Wahrnehmung erlebte. Taylors Erlebnisse bieten uns einzigartige Einblicke in das Funktionieren unseres Gehirns und zeigen, wie die verschiedenen Teile unseres Selbst zusammenwirken können, um ein Ganzes zu bilden.
In diesem Artikel werfen wir einen Blick darauf, wie wir die scheinbaren Gegensätze in uns – die logische und die emotionale Seite, das analytische und das kreative Selbst – harmonisieren können.
Die faszinierende Reise der Jill Bolte Taylor
Jill Bolte Taylor schrieb vor einigen Jahren das faszinierende Buch „My stroke of insight“ (auf Deutsch „Mit einem Schlag“), in dem sie von einer lebensverändernden Erfahrung in ihrem Leben erzählt.
Sie ist Neurowissenschaftlerin und hat ihr Leben der Gehirnforschung verschrieben. Als sie knapp 40 Jahre alt war, erlebte sie einen Gehirnschlag, bei dem ihre linke Gehirnhälfte die komplette Funktion verlor. Sie konnte nicht mehr sprechen und sich verständigen, verlor ihre Erinnerung an die Vergangenheit und konnte nicht mehr in die Zukunft planen. In dem Buch beschrieb sie wunderbar, dass sie in der Zeit, in der sie nur die rechte Gehirnhälfte zur Verfügung hatte, in einem Zustand des inneren Friedens (engl. Bliss) lebte. All ihr Ärger, Zweifel, Wut, Stress lösten sich auf, und sie war nur noch eins mit sich und der Welt.
Nach 8 Jahren intensiver Rehabilitation schaffte sie es, den Großteil der linken Gehirnhälfte wieder funktionstüchtig zu machen und übt heute wieder ihren alten Beruf aus.
Vor Kurzem brachte sie ein neues Buch mit dem Titel „Whole Brain Living“ heraus, denn ihre Faszination für das Gehirn hat nicht aufgehört.
Innere Dialoge
Ich bin mir sicher, dir geht es genauso: In uns wird gestritten, diskutiert, versucht umzustimmen, gelockt, versprochen, gekämpft, verurteilt. Ich frage mich dann immer, wer streitet da eigentlich mit wem? Auf alle Fälle bin ich oft nicht einig mit mir selbst und es fühlt sich so an, als ob da mehr als nur eine Person in mir um ihr Recht kämpft.
Oft geben wir diesen „Persönlichkeiten“ auch unterschiedliche Namen: Das innere Kind, der Kritiker, die Perfektionistin etc.
Jill Bolte Taylor stellt in ihrem neuen Buche eine spannende These auf: Wir Menschen haben in uns 4 Charaktere, mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Ausdrucksweisen: Linke Gehirnhälfte Denken, Linke Gehirnhälfte Fühlen, Rechte Gehirnhälfte Fühlen, Rechte Gehirnhälfte Denken.
Vier Charaktere in uns
Linke Gehirnhälfte Denken: Das Organisationstalent
Die linke Gehirnhälfte fungiert als das Organisationstalent im menschlichen Denkapparat. Sie zeichnet sich durch eine ausgeprägte Fähigkeit aus, alles zu organisieren und zu kategorisieren. Dabei legt sie besonderen Wert auf äußeres Erscheinungsbild und Auftreten. Als exzellenter Planer verfügt sie über strategisches und analytisches Denkvermögen. Sie ist bekannt für ihre kritische und bewertende Natur und hat eine Vorliebe für Details. In ihrem Schutzbestreben zeigt sie sich als wahrer Hüter der Sprache und der Worte. Charakteristisch für die linke Gehirnhälfte ist auch ihre Fähigkeit, zwischen Vergangenheit und Zukunft zu springen und dabei klar zwischen „dir“ und „mir“ zu unterscheiden. Sie zieht Grenzen und konzentriert sich auf die Unterschiede zwischen Dingen und Menschen.
In diesem Bereich des Gehirns ist das Ego beheimatet, das sich durch radikale Vorstellungen auszeichnet. Die linke Gehirnhälfte hält stur an Meinungen und Überzeugungen fest, was sich sowohl in ihrem schützenden Charakter als auch in dem starken Wunsch, recht zu haben, manifestiert. Durch diese Eigenschaften spielt sie eine entscheidende Rolle in der Strukturierung und Interpretation unserer Erfahrungen
Rechte Gehirnhälfte Denken: Big Mind
Die rechte Gehirnhälfte, oft als der „Big Mind“ bezeichnet, repräsentiert eine tiefgreifende und ganzheitliche Art des Denkens. Sie verankert das Gefühl, dass wir alle miteinander verbunden sind, und betont die Bedeutung innerer Weisheit und Bewusstheit. Diese Gehirnhälfte ist besonders stark in der nonverbalen Kommunikation und fühlt sich mit allem um sich herum verbunden. Sie lebt im Moment und hat die Fähigkeit, das große Ganze zu sehen, wodurch ein ausgeprägtes „Wir-Denken“ gefördert wird.
Offen für neue Möglichkeiten, akzeptiert die rechte Gehirnhälfte alles so, wie es ist, und erkennt in allem einen tieferen Sinn. Ihre Authentizität zeigt sich in einer verletzlichen, ehrlichen und offenen Haltung. Diese Seite des Gehirns bietet eine klare Sicht auf sich selbst und die Welt und trägt die Intention für natürliches Wachstum in sich. Indem sie Herz und Verstand miteinander verbindet, schafft sie eine tiefe Verbindung mit dem gesamten Universum und fördert ein umfassendes Verständnis von uns selbst und unserer Umwelt.
In der Vielfalt unseres Geistes spiegelt sich die unendliche Komplexität des Lebens.
Linke Gehirnhälfte Fühlen: Die Drama-Queen
Die linke Gehirnhälfte, in ihrem emotionalen Ausdruck, kann als die „Drama-Queen“ unter den Gehirnhälften betrachtet werden. Sie neigt zu Vorsicht, Angst und Starrheit in ihrem Fühlen. Oftmals kritisch, fühlt sie sich schnell angegriffen und schuldig, was dazu führen kann, dass sie sich in emotionalen Dramen verliert. Ein charakteristisches Merkmal dieser Seite des Gehirns ist die Tendenz, sich ständig Sorgen zu machen. Sie neigt dazu, auszugrenzen und kann manipulativ sein, indem sie die Welt in Kategorien wie gut/böse oder richtig/falsch einteilt.
Ein weiterer Aspekt dieses emotionalen Zustandes ist, dass die linke Gehirnhälfte uns mit Selbstzweifeln überhäuft. Sie ist wie eine kleine Stimme in uns, die ständig suggeriert, dass wir nicht gut, schön, reich, beliebt, fit oder schlank genug sind. Diese Gehirnhälfte sieht sich oft als Mittelpunkt des Universums und reagiert lautstark, wenn jemand diese Sichtweise infrage stellt. Ein häufiges Muster ist das Verfallen in die Opferrolle und die Tendenz, andere für das eigene Empfinden verantwortlich zu machen, nach dem Motto: „Wenn du anders wärst, ginge es mir viel besser!“ Diese emotionalen Eigenschaften der linken Gehirnhälfte zeigen, wie intensiv und herausfordernd das interne Erleben sein kann, wenn es von dieser Seite dominiert wird.
Rechte Gehirnhälfte Fühlen: I wanna have fun
Die rechte Gehirnhälfte in ihrem emotionalen Ausdruck könnte man als den Inbegriff des „I wanna have fun“-Prinzips beschreiben. Sie ist der Teil von uns, der am liebsten den ganzen Tag spielen und Spaß haben möchte. Geprägt durch Offenheit und Risikobereitschaft, zeigt sie sich mitfühlend, leicht zu begeistern und empathisch. Ihre Kreativität sprudelt nur so vor neuen Ideen und Einfällen. Für sie ist alles interessant und wert, sich näher damit zu befassen.
Diese Gehirnhälfte macht sich keine Gedanken darüber, was andere von ihr denken könnten. Sie fühlt sich im Unbekannten wohl und geht freundlich und freudig durchs Leben, wobei sie Freude im Sein und Tun empfindet. Sie verliert sich oft im Flow, ohne einen Gedanken an morgen zu verschwenden. Impulsivität und ein Überfluss an Energie sind weitere Kennzeichen, ebenso wie ein gewisses Maß an Chaos.
In dieser Hinsicht ähnelt die rechte Gehirnhälfte der Figur Pippi Langstrumpf: Sie lebt nach dem Motto „Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Dieser emotionale Zustand der rechten Gehirnhälfte zeigt eine lebendige, spielerische und unbeschwerte Herangehensweise an das Leben, die durch Kreativität, Freude und eine unkonventionelle Haltung geprägt ist.
Die Vielschichtigkeit unserer Persönlichkeit
Ganz sicher erkennst du dich auch in diesen Beschreibungen wieder, oder? Manchmal spürt man deutlich, wie eine dieser Seiten stärker hervortritt, je nachdem, wie man sich gerade fühlt, was ansteht oder in welcher Rolle man sich befindet.
Taylor ist davon überzeugt, dass wir alle diese vier Teile in uns tragen. Sie arbeiten in uns, manchmal laut, manchmal leise, und haben dabei eigentlich wenig mit dem zu tun, was wir als unser „wahres Selbst“ empfinden. Es sind gewissermaßen die Skripte, die in uns ablaufen, die uns schon in die Wiege gelegt wurden und die durch unser Leben ständig neu geformt und bestätigt werden.
Meine Reise von Links nach Rechts
Wenn ich mir meine Vergangenheit ansehe, dann war ich Zeit meines Lebens in der linken Gehirnhälfte zu finden. Ich habe analysiert, geplant, strukturiert. Ich hatte es so gelernt und es hat mir Sicherheit gegeben. Die Kehrseite davon war, dass ich viele Zweifel und Ängste mit mir herumgetragen und viel Stress und Druck erfahren habe, weil meine linke Gehirnhälfte (mein Verstand) sehr dominant war.
Selten war ich einfach nur „im Moment“, der Gedanke daran war Furcht einflößend. Was sollte ich im „Jetzt“, wenn es doch noch so viel zu tun gab. Ich wollte immer recht haben, weil ich dachte, dass ich dann professioneller und souveräner wäre. Meine Gefühle von Wut und Ärger hatten mich oft überrannt und ich wusste nicht, wie ich mit dieser Gefühls-Intensität umgehen sollte. Zum Schutz habe ich mich oft zurückgezogen, was mich zwar kurzfristig von den unangenehmen Gefühlen befreite, aber nicht sicherer und selbstbewusster machte.
Die Entdeckung der Intuition: Ein Schritt zur rechten Gehirnhälfte
Erst in den letzten Jahren habe ich mich der „rechten Gehirnhälfte“ zugewendet, für mich ist das die Intuition oder inneres Wissen. Ich habe gelernt, mit Nichtwissen umzugehen, habe mich mehr und mehr in den Flow begeben und gelernt andere Menschen und auch mich so zu lieben, wie sie sind und wie ich bin.
Während ich mich mehr und mehr meiner Intuition annäherte, gab es eine Zeit, in der ich alles, was Jill Bolte Taylor mit der linken Gehirnhälfte verbindet, abgelehnt und mich von der „linken“ auf die „rechte“ Seite geschlagen habe.
Verurteilte ich früher das „einfach in den Tag hinein leben“, verurteilte ich später Pläne und Strukturen. Rannte ich früher von einem Ziel zum nächsten, ließ ich mich dann nur noch von einem Projekt zum nächsten treiben, ohne über Ergebnisse nachzudenken.
Ich dachte, das wäre die Lösung, aber letztendlich hatte ich nur ein Konzept (zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen) gegen ein anderes (mach das, was dir Spaß macht) ausgetauscht.
Die Vollständige Integration: Akzeptanz und Harmonie aller Gehirnhälften
In der letzten Zeit habe ich, inspiriert durch Jill Bolte Taylors Erkenntnisse, verstanden, dass ein ausgeglichenes und stimmiges Leben erst dann möglich wird, wenn wir alle Aspekte unseres Seins – jede einzelne Gehirnhälfte – erkennen, akzeptieren und lieben. Dieser Prozess ist kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-Auch. Als Menschen besitzen wir die wunderbare Fähigkeit, zu planen und strategisch zu denken, aber ebenso das Geschenk, uns dem Flow hinzugeben und uns mit allem verbunden zu fühlen. Es geht nicht darum, eine Seite über die andere zu stellen oder sie als wertvoller oder richtiger zu betrachten. Vielmehr liegt die Schönheit in der Erkenntnis, dass jeder Aspekt unseres Selbst eine sinnvolle und wertvolle Funktion erfüllt und zu unserem authentischen, ausgeglichenen und erfolgreichen Leben beiträgt.
Die Herausforderung und zugleich die Faszination liegen in der Frage, wie diese unterschiedlichen Teile in uns zusammenarbeiten. Können wir ein harmonisches Miteinander schaffen, oder befinden wir uns in einem ständigen inneren Konflikt? Es ist essenziell, alle Facetten unseres Seins zu akzeptieren – die Momente, in denen wir in Erinnerungen schwelgen, genauso wie die, in denen wir voll und ganz im Hier und Jetzt sind; die Zeiten, in denen wir das gesamte Spektrum unserer Gefühle erleben, ebenso wie die, in denen wir in bedingungsloser Liebe baden. Indem wir lernen, uns in all diesen Aspekten zu erkennen und zu verstehen, können wir inneren Frieden finden und wahrhaftig mit uns selbst im Reinen sein.