Wissen ohne Worte
Sprache spielt zweifellos eine entscheidende Rolle in der Kommunikation. Sie ermöglicht es uns, Gedanken, Gefühle und Informationen auszudrücken. Dennoch existiert ein tieferes Verständnis jenseits der Sprache, das auf persönlichen Erfahrungen basiert. In diesem Artikel zeige ich dir anhand von Beispielen, warum wir in manchen Situationen sprachlos sind, obwohl wir über ein umfangreiches Wissen verfügen.
Der Schock der Leere
Hast du das auch erlebt: Du sitzt bei einer Prüfung, hast wirklich viel gelernt, aber plötzlich herrscht Leere in dir? Dir fällt kein einziges Wort ein, geschweige denn, dass du ganze Sätze formulieren kannst.
Mark Twain soll einmal gesagt haben: „Das Gehirn ist eine großartige Sache. Es funktioniert vom Moment der Geburt an – bis zu dem Zeitpunkt, an dem du aufstehst, um eine Rede zu halten.“
Diese „Prüfungsangst“, also wenn wir uns in Situationen begeben, bei der wir bewertet werden könnten, begleitet viele Menschen bis ins Erwachsenenalter. Allein die Vorstellung, eine Rede halten zu müssen, bringt viele ins Schwitzen.
Mir ging es lange genauso. Jedes Mal, wenn ich einer prüfungsähnlichen Situation gegenüberstand, war es, als ob mein Gehirn leer gefegt wäre und ich mich in Schockstarre befände.
Aus diesen Erfahrungen ergaben sich bei mir zwei Verhaltensweisen:
- Ich sammelte Wissen, vornehmlich aus Büchern, denn angelerntes Wissen gab mir ein Gefühl der Sicherheit. Ich lebte nach dem Motto „Wissen ist Macht“, in der Überzeugung, dass je mehr Wissen ich anhäufen würde, desto besser könnte ich mit solchen stressigen Situationen umgehen.
- Ich vermied es, wann immer möglich, freizusprechen. Musste ich doch einmal eine Rede oder einen Vortrag halten, lernte ich den Text so gründlich wie m√∂glich auswendig, um nie wieder eine so unangenehme Situation erleben zu müssen, wie damals in den Prüfungen, wo mir die Worte fehlten.
Manchmal weißt du einfach
In unserer Gesellschaft messen wir Wissen oft an der Fähigkeit, es in Worte zu fassen. Was sich nicht klar und deutlich ausdrücken lässt, gilt schnell als weniger wertvoll.
Doch gibt es Momente, in denen unser tiefstes Verstehen sich der Sprache entzieht.
Sicherlich hast du selbst diese Erfahrungen gemacht. Situationen, in denen du intuitiv wusstest, welcher Schritt der nächste ist, ohne dass du es begründen konntest.
Dieses Wissen, tiefer und oft gefühlsbasiert, war entscheidend, als ich mich selbstständig machte. Ich wusste einfach, dass es der richtige Zeitpunkt war und alles gut werden würde.
Wann hattest du das letzte Mal dieses tiefe innere Wissen? Bevor du weiterliest, nimm dir einen Moment und erinnere dich, wann du diese innere Gewissheit hattest. Konntest du erklären, woher dieses Wissen kommt? Spür auch in dich hinein – wie hat es sich angefühlt.
Diese Form des Wissens – ich nenne es Intuition – wird in der rational geprägten Welt der Wirtschaft oft unterschätzt. Zahlen, Daten und Fakten dominieren, während die Intuition als Entscheidungsgrundlage eher skeptisch betrachtet wird.
Und klarerweise wird Wissen auch nur akzeptiert, wenn es – wie in der Schule – in schönen und klar formulierten Sätzen ausgedrückt werden kann.
Ein Stammeln „Ich weiß, aber ich kann nicht sagen, woher ich weiß, warum ich weiß und nicht einmal genau, was ich weiß“ – ja, das wird selten akzeptiert.
Verstehen jenseits der Sprache
Meine Vorstellung über Wissen und Sprache wurden auf die Probe gestellt, als ich drei Monate lang ein Projekt in Brasilien leitete. Da ich kein Portugiesisch spreche, fanden alle Meetings auf Englisch statt, bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Emotionen überkochten und die Teilnehmenden in ihre Muttersprache zurückfielen.
Dann saß ich mittendrin und verstand kein Wort. Anfangs versuchte ich noch krampfhaft das Gespräch wieder ins Englische umzuleiten. Mit der Zeit jedoch machte ich eine erstaunliche Entdeckung. Ohne die genauen Worte zu kennen, wusste ich, worum es in der Diskussion ging.
Natürlich konnte ich es nicht Wort für Wort wiedergeben, aber ich hatte ausreichend Informationen, um dem Gespräch folgen zu können: Körpersprache, Energie, Mimik, Melodie.
Plötzlich besaß ich Wissen ohne Worte – in zweierlei Hinsicht.
Erstens kam dieses Erkennen nicht von der gesprochenen Sprache, sondern von einem tieferen Wissen in mir.
Und zweitens konnte ich dieses Wissen nicht in Worte fassen. Welch eigenartiger Zustand für mich, die doch immer Wissen ausschließlich mit Worten verband.
Intuition und das Sprachzentrum
Die Entdeckung der Grenzen zwischen sprachgebundenem Wissen und der Intuition wurde mir durch Jill Bolte Taylors Buch „My Stroke of Insight“ noch deutlicher. Taylors persönliche Erfahrung als Hirnforscherin, die einen Schlaganfall erlitt, bietet tiefe Einblicke in unser Gehirn. Sie zeigt auf, dass unsere Intuition – dieses tiefe, innere Wissen, das sich oft schwer in Worte fassen lässt – nicht direkt mit unserem Sprachzentrum verbunden ist.
Während ihres Schlaganfalls erlebte Taylor, wie ihre sprachlichen Fähigkeiten und die Fähigkeit zu linearem Denken stark beeinträchtigt wurden, während ihr Bewusstsein für das Hier und Jetzt intensiviert war. Dies führte sie zu der Erkenntnis, dass Intuition in jenen Teilen unseres Gehirns verankert ist, die jenseits der sprachlichen Artikulation liegen.
Ihre Erfahrungen unterstreichen eindrucksvoll, dass unsere tiefsten Einsichten und Gefühle oft aus einer Quelle stammen, die älter und grundlegender ist als die Sprache. Taylors Geschichte eröffnet eine neue Perspektive auf die Art und Weise, wie wir Wissen erlangen und teilen, und betont die Bedeutung der Intuition als eine ebenso wertvolle Form des Verstehens.
Intuition ist die Sprache der Seele, die kein Wort benötigt, um verstanden zu werden.
Mehr als nur Worte
In unserer Welt spielt die Sprache eine riesige Rolle. Sie ist ja auch fantastisch. Wir nutzen sie, um uns mitzuteilen, Gefühle zu teilen und die schönsten Geschichten, Gedichte und Lieder zu erschaffen.
Aber manchmal vergessen wir dabei etwas Wichtiges: Die eigentliche Botschaft steckt nicht in den Worten selbst.
Stell dir einen Sonnenuntergang vor. Wenn du noch nie einen gesehen hast, was sagt dir dann das Wort „Sonnenuntergang“ schon?
Ein Wort beginnt erst zu leben, wenn du es mit einem Gefühl, mit einer persönlichen Erfahrung verknüpfst. Erst dann fängst du an zu verstehen, was für ein atemberaubendes Naturschauspiel ein Sonnenuntergang wirklich ist.
Und genau dieses Gefühl, diese Erfahrung, lässt sich kaum in Worte fassen. Denn wie erklärst du einen Sonnenuntergang jemandem, der noch nie einen erlebt hat? Das ist fast unmöglich. Die Person mag zwar die Worte verstehen, aber das, was du wirklich ausdrücken möchtest, begreift sie nicht.
Die Kraft des Erlebten
Die Prüfungssituation, vor der wir alle Angst haben und bei der wir kein Wort herausbringen, bezieht sich ausschließlich auf angelerntes Wissen. Bücher sind unsere Quellen, doch ohne persönliche Erfahrung fehlt uns die emotionale Verbindung, die das Gelernte im Gedächtnis verankert. Unser Gehirn tut sich scher damit, sich an Texte zu erinnern, die keine Gefühle in uns wecken.
Doch es gibt diese magischen Momente, in denen das Sprechen mühelos wird. Hast du das nicht auch schon erlebt? Du sprichst über ein Thema, das dir am Herzen liegt, und plötzlich fließen die Worte nur so aus dir heraus. Ohne jegliche Vorbereitung überraschst du dich selbst mit der Leichtigkeit deiner Worte und der Tiefe deiner Einsichten.
Hervorragend kannst du den Unterschied bei einem Vortrag erkennen. Ein auswendig gelernter Text mag zwar Informationen enthalten, aber er klingt leer und flach.
Erst wenn ein Vortrag mit echtem Gefühl hinter den Worten durchdrungen ist, erwacht er zum Leben, berührt die Zuhörer und bleibt ihnen wirklich im Gedächtnis.
Vertraue deinem sprachlosen Wissen
Meine Vorbereitung für Vorträge hat sich grundlegend gewandelt. Anstatt mich auf ausformulierte Sätze zu stützen, gebe ich nun einem groben Rahmen und meiner Intuition den Raum. Dieses innere Wissen, dessen Existenz mir zuvor nicht einmal bewusst war, leitet mich nun zu den passenden Worten.
Was zur Folge hat, dass ich damit die Menschen nicht nur im Kopf, sondern auf einer tieferen Ebene erreiche. In einem Mastermind-Call sagte eine Teilnehmerin zu mir: „Du hast gerade etwas gesagt, ich weiß nicht mehr was, aber es hat in mir ein ruhiges und angenehmes Gefühl ausgelöst.“
Genau hier liegt der Schlüssel: Es geht nicht darum, das Publikum allein mit Worten zu erreichen, sondern vielmehr mit dem Gefühl, das diese Worte transportieren. Es ist ein tieferes Verstehen, das jenseits der Sprache existiert, aber dennoch eine universelle Verbindung zwischen uns schafft.
Sprache ist zweifellos ein mächtiges Werkzeug für den menschlichen Ausdruck und die Kommunikation. Doch die wahre Magie unserer Verbindung entsteht im Unsagbaren. Wenn wir unserer Intuition vertrauen und unseren Gefühlen Raum geben, finden wir oft zu einer Ausdrucksweise, die authentischer, lebendiger und berührender ist, als es reine Logik je sein könnte.